Der moderne Mystiker
Was ist ein moderner Mystiker? Ein Mystiker ist zunächst jemand, der ein besonderes Konzept hat und einer Methode folgt, dieses Konzept in ein persönliches Erlebnis umzuwandeln. Was durch das mystische Konzept erreicht werden soll, ist ein unmittelbares persönliches Erfahren des Einen. Dieses Erlebnis, das der Mystiker sucht, ist das Erkennen des Einsseins seines Selbst mit dem Absoluten – dem Einen.
In der Mystik ist das Eine ein Begriff, der die absolute Realität bezeichnet, das heißt: Die Ganzheit des Alls. Dieses Absolute, dieses Eine, kann mit anderen Begriffen gleichgesetzt werden, die ihm jeweils zugeschrieben werden. Untersucht man diese, besitzen die unterschiedlichen Namen für den Mystiker den gleichen inneren Gehalt, so z.B. Gott, universaler Geist, das Kosmische, der höchste Geist – alle diese Begriffe entsprechen der absoluten Realität oder dem Einen.
Nur in seiner Vorstellung weist der Mensch diesen Begriffen eine Deutung zu, welche den Eindruck von Unterschiedlichkeit erweckt. Der theistische personale Gottesbegriff zum Beispiel ist von der Vorstellung eines apersönlichen, kosmischen Gottesbegriffs eindeutig verschieden. Gleichgültig, welche Vorstellungen die Mystiker haben, sie lassen unbestreitbar transzendente Qualitäten gelten. Das höchste Eine ist ihrer Vorstellung nach allgegenwärtig; seine Beschaffenheit und Wirklichkeit erfüllen alle Dinge. Es ist unveränderlich, ewig und vollkommen. Es ist allmächtig, die Ursache von allem, was ist oder jemals sein kann. Es ist mystischer Vorstellung nach allwissend; das heißt, alles ist als Ergebnis seiner Weisheit notwendigerweise vollkommen.
Der Mystiker – ob orientalisch, jüdisch, christlich oder islamisch – kommt zu dem Schluss, dass göttliche Vollkommenheit mit dem Guten auf gleicher Stufe steht. Das höchste Glück erlebt man nur durch das wirklich Gute. Nach mystischer Lehre ist es nötig, dass der
Mensch nach einer Übereinstimmung mit diesem göttlichen, überweltlichen Zustand, den er sich vorstellen kann, trachten sollte.
Diese kurze Erläuterung jenes alles enthaltenden Ideals, das von den Mystikern vertreten wird, scheint sich wenig von den religiösen Glaubensmeinungen zu unterscheiden, die in den meisten theologischen Systemen vorkommen. In den Religionen – auch in jenen, die man für “heidnisch” hält – sind wesentliche Bestandteile der Mystik verwurzelt und manchmal gar als Herzstück zu finden. Dennoch sind viele religiöse Eiferer nicht mit der Tatsache einverstanden, dass gewisse Lehren, die sie unterstützen, dem Gehalt nach im Grunde genommen mystisch sind. Dies ist auf zwei mitwirkende Umstände zurückzuführen:
Erstens haben die meisten dieser im Einzelnen in Frage kommenden Eiferer nie auch nur eine flüchtige Prüfung der Prinzipien der Mystik unternommen.
Zweitens: Wegen all der irrigen, fantastischen Einbildungen, die man der Mystik unterstellt, ist sie für den nicht informierten Gläubigen zu einem Gebiet geworden, das in Aberglauben und Zauberei verstrickt zu sein scheint.
Die Auffassungen des Mystikers, seine Überzeugungen, sind eine Sache und seine Methoden, Überzeugungen zu erproben, eine ganz andere.
Fragen wir ganz direkt: Wie will der Mystiker das Einssein mit dem Einen erreichen, nach dem er strebt?
Der Mystiker akzeptiert vernunftmäßig, dass er ein Freiwerden von den Zwängen der profanen Welt erreichen muss. Er ist damit der Realität der zweifachen Existenz des Menschen gegenübergestellt. Dies bedeutet: Es ergibt sich die gewöhnliche Bewusstheit des physischen, sterblichen Daseins und andererseits die Vergegenwärtigung der inneren Welt mit der gefühlsbetonten Versenkung, die durch den Suchenden erahnt wird.
Der Mystiker schreibt diesen innerlichen Aspekt seiner zweifachen Natur nicht ausschließlich seinem organischen Seinswesen zu. Obgleich dessen Empfindungen durch Vermittlung des Gehirns, der Drüsen und der Nervensysteme ihre Wirkung haben können, ist er sich darüber im Klaren, dass der Ursprung jenes inneren Aspekts nicht dort zu finden ist. Er betrachtet dieses innere Wesen – das Selbst oder die Seelenpersönlichkeit – vielmehr als ein Glied in der Kette der göttlichen oder kosmischen Kräfte. Vom Körper nimmt der Mystiker nicht an, dass er von dieser Kette göttlicher Phänomene getrennt sein könnte. Dies zu glauben, widerspräche der Auffassung des Mystikers, dass eine Einheit in der gesamten Realität besteht. Deshalb lehrt der Mystiker, dass eine hierarchische Ordnung in der Offenbarung der Realität der einen transzendenten Kraft vorhanden sei.
Im Wesentlichen sind diese Offenbarungen alle von derselben Qualität, aber sie unterscheiden sich und können sogar vielfältig erscheinen in der Art und Weise, wie sie sich manifestieren und für das menschliche Bewusstsein zum Ausdruck kommen.
Entsprechende Beispiele wären das Lichtspektrum mit seinen unterschiedlichen und doch verwandten Farben oder die Tonskala mit ihren Oktaven.
Der Mystiker kann diesen inneren Teil des Selbst und die Komplexität seines Ausdrucks entweder den spirituellen oder den psychischen Teil seines ganzen Selbst nennen. In vergangenen Jahrhunderten wies man auf diese innere Seite hauptsächlich als auf die spirituelle Natur des Menschen hin. In neuerer Zeit jedoch ist sie vom Mystiker oder vom Studierenden der Mystik als das psychische Element seines Wesens bezeichnet worden, wenngleich dieses Wort psychisch selbst altgriechischer Herkunft ist.
Dieses Psychische, alles Erfüllende wird vom Mystiker als die höchste der göttlichen oder kosmischen Kräfte angesehen, die im Menschen wirksam sind und wird auch als Übergangsschwelle betrachtet zwischen persönlicher Ganzheit und dem umfassenden Einen, das der Mystiker zu erreichen trachtet.
Diese Einheit besitzt für ihn zweierlei Bedeutung: Zunächst kann dieses Eine gedacht werden als von allem erfüllt – nichts ist von ihm getrennt. In diesem Sinne ist der Mensch eigentlicher und wesentlicher Bestandteil dieser kosmischen oder geistigen Einheit.
Zum anderen ist der Mensch ein bewusstes Wesen. Und das Phänomen des Bewusstseins ist Wahrnehmen und Erkennen. Für den Menschen kann nur dann etwas Realität besitzen, wenn er sich dessen bewusst wird. Der Mystiker geht davon aus, dass er die Einheit mit diesem alles in sich integrierenden Einen nur finden kann, wenn er sich seines Inneren Selbst bewusst ist. Dann empfindet er sich im Einssein mit Gott, dem universalen Geist, dem All – je nach seiner Vorstellung von dem Einen. Es ist deshalb unzureichend, nur das physische Selbst zu kennen. Wir betrachten doch einen Finger auch nicht als die ganze Hand.
Eine andere ausgeprägte und höchst wichtige Eigentümlichkeit der Mystik besteht darin, dass diese Erfahrung erhabener Einheit immer persönlich ist und unmittelbar empfangene Bewusstseinsinhalte aufweist. Die mystische Erfahrung bedarf keiner Vermittlung, noch lernt man sie dadurch kennen. Die logische Grundlage der mystischen Unterweisung in dieser Hinsicht liegt darin, dass die Qualität dieser erhebenden Erfahrung nicht von einem Geist zum anderen übertragbar ist. Das Selbst muss unmittelbar seine vollkommene Beziehung zum Göttlichen oder zum kosmisch Einen erkennen.
Kurz gesagt: Wir haben keine mystische Einswerdung, bis wir sie erleben. Der Einzelne kann nur durch seine persönliche Abstimmung auf das Ganze, von dem er eine Vorstellung und Antwort erhält, verstehen.
Namhafte Mystiker der Vergangenheit waren gläubige Angehörige etablierter, herkömmlichen Religionsströmungen. Bei flüchtigem Hinsehen scheint dies den oben genannten wesentlichen Voraussetzungen eines Mystikers zu widersprechen. All die bekannten Religionsgemeinschaften besitzen ihren Klerus, ihre Priester. Man respektiert aber diese prominenten Einzelnen als in ihrem Lehrsystem wohl bewandert und man hält sie auch für spirituell besonders entwickelt als Vermittler für die Menschen. Doch die Lektüre der Lebensbeschreibungen der bekannten Mystiker durch die Jahrhunderte zeigt, dass die Priester oder Geistlichen derselben Religion wie die Mystiker eben keine unmittelbaren Vermittler ihrer mystischen Erfahrung waren.
Jene innig mit einer Religionsrichtung verbundenen Mystiker waren eifrig Studierende der heiligen Schriften ihres jeweiligen Bekenntnisses. Sie wurden von den Begrifflichkeiten und den Predigten auf Grundlage ihrer Religion angeregt. Dennoch war all dies nur ein Anreiz, die Erleuchtung persönlich zu erlangen, die nötig ist, um das göttliche Ziel zu erreichen. Die Methode, die diese religiösen Lehrer erklärten, die Weisungen, die sie gaben, wurden für die aufwärts strebenden Mystiker nur zum Weg, zum Werkzeug, ihr eigenes mystisches Erleben zu begreifen. Die wesentliche mystische Erfahrung, die grundlegende Einheit, kann dem Mystiker nicht bekannt gemacht werden; alles, was ihm gezeigt oder ihm gelehrt wird, ist nur der Weg dorthin.
Obwohl die mystische Erfahrung selbst sehr persönlich vor sich geht, ist doch der wahre Weg, sie zu erreichen, im Wesentlichen universal. Eine grundlegende Vorbereitung, die bestimmte Schritte einbezieht, muss mit ihm verbunden werden, wenn der Neophyt sein Ziel erlangen will.
Leider folgt man diesem altbewährten, einmal eingeschlagenen Weg gewöhnlich nicht gewissenhaft. Dieser Weg zur mystischen Erleuchtung ist oft genug durch den Zusatz von Anregungen verfälscht worden, die man als angemessen verkündet hat, die aber tatsächlich wertlos und für den
Betreffenden oft nachteilig sind. Primitive magische Handlungen, Hypnose und andere Praktiken haben oft die wahren Lehren entstellt, die für die mystische Einheitserfahrung notwendige Dienste leisten.
Welches sind die Grundlagen der richtigen Methode, die von jenen angewendet werden kann, die das persönlich Aufbauende der mystischen Einheitserfahrung und damit ihre Erleuchtung zu erlangen suchen? Es ist nicht der Zweck dieses Artikels, diese Grundlagen im Einzelnen genau darzustellen, da dies vielmehr Sache der rosenkreuzerischen Belehrung ist. Doch ein paar Erklärungen lassen sich in dieser Hinsicht doch abgeben.
Im alten buddhistischen Dharma (Zusammenstellung der Grundsätze) gibt es eine genaue Aussage über den Zweck der Meditation, die eine Grundlage aller mystischen Verwirklichungen bildet. Der Zweck der Meditation wird als dreifach beschrieben. Erstens beherrscht man durch sie das niedere aggressive Eigenwesen. Zweitens entwickelt man in sich die höheren Fähigkeiten und Eigenschaften, die Voraussetzung dafür sind, die
Einheit alles Lebens zu schauen. Drittens setzt man die duale Natur des Menschen in einem stetigen spirituellen Entwicklungsgang als Ganzheit ein.
Im buddhistischen Schrifttum wird zugegeben, dass dies eine schwierige Aufgabe sei: “Mag einer auch in einer Schlacht tausendmal tausend Feinde besiegen – der sich selbst besiegt, ist der größte Krieger.“ Es kann keinen Übergang von einem gemeinen, groben und rohen Geist zu einem erhabenen Zustand geben; der Geist muss in den höheren Idealen und Zielen, die er anstrebt, beständig sein.
Die Sorge für den Körper wird dem wahren Mystiker ebenfalls anempfohlen. Das Asketentum mit seiner wiederholten “Selbstabtötung” und Selbstkasteiung wird von der wahren Mystik nicht befürwortet. Wir werden daran erinnert, dass „der Körper ein Gefäß des Bewusstseins* ist. Ruhiges Tiefatmen ist das Mittel, mit dem der Körper von seinen Verunreinigungen frei gemacht werden kann, was ihn mit Energien anfüllt, die mit der Luft zugeleitet werden. Komplizierte Körperhaltungen, die oft mit dem Tiefatmen in der so genannten mystischen Praxis in Verbindung gebracht werden, sind ganz bestimmt nicht dafür erforderlich.
Die buddhistische Ausführungsart lässt es besonders hilfdreich erscheinen, dass man die besten Meditationsergebnisse am Morgen erhält. Natürlich ist dieser Rat nicht auf die buddhistische Belehrung beschränkt. Der Geist ist zu dieser Tageszeit ausgeruht und frisch und von den
vielen Tageseindrücken noch unbelastet. Es wird ferner empfohlen, dass man seine Meditation, wenn möglich, immer am gleichen Ort durchführe. Dies stärkt die Empfindung einer vertrauten Umgebung, die das Vorhaben symbolisiert und das Erreichen des gewünschten Bewusstseinszustandes fördert.
Die Frage liegt nahe: Welche Ergebnisse sind von der – sagen wir – buddhistischen Meditation zu erwarten? Es heißt, dass die Ergebnisse der Meditation in ihrem Frühstadium sowohl negativ als auch positiv sind. Der negative Aspekt ist die Verminderung äußerer, objektiver Eindrücke, die normalerweise das Bewusstsein beherrschen. Als Ergebnis erreicht der danach Strebende größere Gelassenheit. Das positive Ergebnis in der Meditationspraxis besteht, wie in den Lehren aus alter Zeit berichtet wird, darin, dass der Einzelne ein größeres universales Verständnis für die Menschheit und von sich selbst gewinnt. Kurzum, das Selbst wird in geringerem Ausmaß von äußeren Eindrücken bedrängt, was jenes nach innen Gekehrtsein zulässt, das zu einer größeren Selbsterkenntnis führt.
Im buddhistischen Dharma wird zwischen Konzentration und Meditation unterschieden. Wir zitieren diese alten Lehren, um die Linie echter Meditation aufzuzeigen, die zu jenen Organisationen hinführt, welche verbürgte mystische Methoden bis heute fortbestehen lassen: „Das Ziel der Konzentration ist unmittelbar und endlich; das Ziel der Meditation ist ein recht weit entferntes und unendlich.“
Die tibetische Darstellung des Themas Meditation ist ein Gemisch aus hinduistischen und buddhistischen Lehren, verbunden mit einer eigenen Tradition, welche aus der besonderen Abgeschiedenheit Tibets herrührt. Obgleich die hinduistischen Lehren in Tibet dem Buddhismus um Jahrhunderte vorangingen, wurden sie später weitgehend von dessen Lehren beeinflusst. Die berühmte buddhistische Lehre vom „Achtfachen Pfad“ wurde ein wesentlicher Bestandteil der tibetischen Religion und Philosophie. Die Lehre vom Achtfachen Pfad, wie sie sich uns mit leichten Abwandlungen präsentiert, ermahnt den Menschen, den Weg reiner Anschauung, reinen Strebens, reinen Sprechens, reiner Handlung, reinen Lebens, reinen Verlangens, reinen Denkens und reiner Meditation einzuschlagen.
Man nimmt als gegeben an, dass man durch solche Charakterbildung und Disziplin zu höheren Stufen des Verstehens voranschreitet und dass der Strebende dadurch dahin kommt, „das Nichtsein des eigenen Ichs zu erkennen“. Dies bedeutet, dass das einzelne Ich in das Absolute aufgenommen wird, in jene Einheit also, die das wesentliche Ziel der Meditation ist. Es heißt: „Also noch einmal: Wie der Name der Speise allein den erneuten Appetit eines Hungrigen darauf nicht stillt, sondern er die Speise essen muss, so muss auch ein Mensch, der etwas über die Leere (der Gedanken) lernen will, meditieren, um sie zu erfassen und nicht nur eine Erläuterung darüber hören.“
Um dieses Summum Bonum, dieses höchste Gut, zu erreichen – so wird berichtet – seien vier verschiedene Grade der Einweihung unbedingt notwendig, die hier und jetzt nicht dargestellt zu werden brauchen.
Sollen wir nach all dem Vorangegangenen also noch annehmen, dass das Ziel des Mystikers nur ein abstrakter Idealismus ist, eine Flucht vor den Unbilden der Erscheinungswelt oder der Alltagsrealität? Ist die Mystik nur ein Sichzurückziehen in eine Welt, die aus Produkten der Einbildung des Unterbewusstseins geformt wird? Lebt der Mystiker also gänzlich nur für sich, von den Erfordernissen der übrigen Menschheit abgesondert? Wenn
dem so wäre, würde dies die Mystik ausschließlich zu einer Übung der Soteriologie machen, zu einem rein persönlichen und ichzentrierten System spiritueller Selbsterlösung.
Der wahre Zweck mystischer Einheitserfahrung besteht jedoch immer darin, eine Berührung mit der Quelle umfassenderer Erleuchtung zu suchen. Der moderne Mystiker ist also jemand, der erkennt, dass das Selbst aus sich ergänzenden Ebenen des Bewusstseins, des Gewahrwerdens besteht und dass er dies alles in sich zu vereinen vermag.
Ralph M. Lewis
von 1939 bis 1987 weltweiter Leiter des AMORC