Claudio Mazzucco ǀ Innere Verwandlung
„Als Rabbi Elimelechs Seele einst in den Himmel aufstieg, erfuhr er, dass er mit seiner Heiligkeit den zerstörten Altar im Heiligtum des himmlischen Jerusalem wieder aufbaute, das dem Heiligtum Jerusalems auf dieser Erde entspricht.“
Martin Buber
Dieses kurze Zitat aus einer der Schriften des berühmten österreichischen Philosophen und Pädagogen führt uns zum Kern eines der grundlegenden Aspekte des rosenkreuzerischen Einweihungsweges zurück, nämlich der inneren Verwandlung des Individuums, das sich auf diesen Weg begibt. Eine Besonderheit des rosenkreuzerischen Pfades ist die Alchymie, und das grundlegende Ziel der Alchymie ist, kurz gesagt, die Transmutation. Transmutieren bedeutet, etwas in eine völlig entgegengesetzte Richtung zu verändern oder, wie es metaphorisch ausgedrückt wird, ein unedles Metall wie Blei in Gold zu verwandeln.
Transmutation bedeutet in diesem Zusammenhang die Erfüllung einer Reihe von Stufen im Leben eines Menschen, die eine Art spirituelle Erhebung bewirkt, welche zu einer Veränderung der Persönlichkeit führt und sich anschließend auf die materielle Ebene auswirkt. Damit eine solche Verwandlung stattfinden kann, sind bestimmte Bedingungen erforderlich, ohne die jeder Prozess dieser Art auf der intellektuellen und materiellen Ebene bleibt. Eines der Probleme des Einweihungs-Weges besteht gerade darin, die Kenntnis des Mystischen nicht mit der eben erwähnten Verwandlung zu verwechseln. Eine dieser Bedingungen bezieht sich auf unsere Fähigkeit zur Reflexion.
‘Reflektieren’ [vom lateinischen ‘reflectere’] bedeutet ‘sich zurückbeugen’ und bezieht sich in diesem Fall auf eine Aktion des individuellen Bewusstseins, bei der es zuerst nach außen projiziert und sich dann nach innen wendet. Auch wenn sich diese Beschreibung auf einen einfachen Vorgang beziehen mag, erweist sich dieser Schritt in der Realität oft als sehr schwierig. Reflexion bedeutet, sich selbst zu beobachten, aber diese Beobachtung kann Aspekte der Persönlichkeit ans Licht bringen, die einer Veränderung bedürfen; und sich dessen bewusst zu werden, kann sogar eine schmerzhafte Erfahrung sein. Außerdem ist dies zwar ein Schritt, den jeder von uns allein gehen kann, aber er erfordert ein gewisses Training – auch auf psychologischer Ebene.
Eine weitere wesentliche Voraussetzung ist, dass wir durch eine gründliche Vorbereitung lernen, die symbolische Sprache zu deuten, die uns die Natur oft vor Augen führt. Unsere Zivilisation hat sich im Lauf der Jahrhunderte strukturiert, indem sie ihre logische Sichtweise der Realität verstärkt hat. Die Logik ist nur einer der Prozesse, die das Gehirn zum Lernen nutzen kann; sie ist wie ein mentales Schema, so dass alles, was nicht genau in seine Kategorien passt, für uns unverständlich sein kann.
Die Mystiker der Vergangenheit haben immer betont, dass der Pilger auf dem Pfad der Edlen Wahrheiten lernen muss, Ereignisse als Analogien zu interpretieren, was manche sogar als poetisch bezeichnen würden. Im Grunde geht es darum, durch Metaphern und Analogien zu argumentieren, die auf mehreren Ebenen interpretiert werden können und die Wahrheit anzudeuten, ohne sie jemals direkt auszusprechen.
Wenn ich sage: „Er kämpfte wie ein Löwe“, dann meine ich natürlich nicht irgendeine gewaltsame Form des Kampfes mit dem Tod eines der Gegner, obwohl der Satz auch das bedeuten könnte; ich könnte mich auf eine Art von Mut oder Stärke beziehen, aber auch auf eine Art von Edelmut. Dieses einfache Beispiel zeigt, wie dieser Satz aus verschiedenen Blickwinkeln interpretiert werden kann.
Das Träumen ist eines der Mittel, durch die unser Unterbewusstsein zu uns spricht und bedient sich einer symbolischen Sprache, die zu verstehen eine gewisse Erfahrung erfordert. Eine Abfolge von Bildern und Emotionen vermittelt oft Aspekte unserer Persönlichkeit, die es zu verstehen, umzuwandeln und zu integrieren gilt, während eine logische Deutung in die Irre führen würde. Dies ist auch einer der Gründe, warum der Orden uns sagt, dass wir andere nicht um die Deutung unserer Träume bitten sollen, denn sie sind Botschaften, die unser innerstes Wesen betreffen und eine Symbolik verwenden, die nur uns selbst vertraut ist und die von niemandem vollständig erfasst werden kann. Analogien, Metaphern und Assoziationen sind die Sprache, die die Seele benutzt, um sich auszudrücken. Um sie zu verstehen, bedarf es eher einer Art Abstimmung als einer logisch-rationalen Analyse; und dies ist auch die typische Sprache eines Einweihungs-Rituals. Es zeichnet durch Metaphern, Symbole und Analogien das Abenteuer der Inkarnation des Seins in der Materie nach. Ihre Interpretation offenbart dem Eingeweihten den Sinn und die verborgene Bedeutung der verschiedenen Vorgänge in der Natur.
Nicht zuletzt ist da die Disziplin, die die Grundlage für den gesamten Transmutations-Prozess bilden muss. Die alten Alchymisten führten ihre Verfahren tagelang ununterbrochen durch und verwendeten oft niedrige Temperaturen in ihren Öfen, um den Prozess nicht über seine natürlichen Grenzen hinaus zu treiben und damit alle ihre Bemühungen zunichte zu machen.
Disziplin erweist sich als einer der schwierigsten Aspekte unserer heutigen Zeit, einer Zeit, die durch den Wunsch gekennzeichnet ist, dass das Unbekannte lieber früher als später bekannt wird. In der Tat machen wir uns Sorgen. Wir machen uns Sorgen um die Zukunft und wollen, dass sie schnell zur Gegenwart wird, während die Gegenwart bald zur Vergangenheit wird. Damit berauben wir uns des einzigen wirklichen Werkzeugs, das wir haben, um zu lernen, was wir wirklich brauchen. Wir müssen unsere Disziplin in den Kampf gegen die Geschwindigkeit einbringen, mit der die Menschen normalerweise leben. Unsere so genannten „postmodernen“ Gesellschaften sind von einem Gefühl der Angst und des Zeitmangels geprägt, und jeder Versuch, persönliche Zeit zurückzugewinnen, stößt auf ernsthafte Schwierigkeiten.
Alle unsere Mitglieder müssen wissen, dass das, was sie dazu gebracht hat, an die Pforte des Ordens zu klopfen, darauf wartet, entdeckt zu werden. Aber diese Entdeckung wird nur möglich sein, wenn es jedem gelingt, in seinem eigenen Leben die nötige Disziplin zu entwickeln, um die innere und äußere Natur in ihrer analogen Sprache zu interpretieren, seine eigenen Erfahrungen zu reflektieren, alte Ideen und Konzepte durch Ideen und Gedanken einer höheren Ordnung zu ersetzen und so zur Umwandlung der eigenen Persönlichkeit voranzuschreiten. Auf diese Weise können auch wir unseren Teil dazu beitragen, den Altar des Tempels des himmlischen Jerusalems wieder aufzubauen, und wir werden tief in unserem Herzen und Verstand wissen, dass er dem Altar des Tempels von Jerusalem auf der Erde entsprechen wird.