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39 Der mit zahlreichen Literaturpreisen ausge- zeichnete Ilija Trojanow wurde durch seinen Roman "Der Weltensammler" einer breite- ren Öffentlichkeit bekannt. Er beeindruckt immer wieder durch seine Einmischung in gesellschaftliche und politische Debatten. Bereits 2009 legte er mit seiner Kollegin Juli Zeh die vielbeachtete Streitschrift "Angriff auf die Freiheit" vor, die sich mit dem Abbau bürgerlicher Rechte im Überwachungsstaat auseinandersetzt. Die Weitsicht dieser Schrift erhält durch die jüngsten Enthüllun- gen über den US-Geheimdienst NSA neue Brisanz. Nicht minder brisant erscheint sein aktueller Essay „Der überflüssige Mensch“ über Menschenrechte und Menschenwürde in Zeiten des globalisierten Kapitalismus. "Es geht um ein Grundproblem, nämlich, dass der Spätkapitalismus oder der globalisierte Turbokapitalismus keinerlei Perspektiven bietet für einen Großteil der Menschheit", so Ilija Tro- janow. "Wer nichts produziert und – schlimmer noch – nichts konsumiert, existiert gemäß den herrschenden volkswirtschaftlichen Bilanzen nicht", gilt als überflüssig. Und es werden immer mehr Überflüssige. Die sogenannten Eliten oder die, die sich für solche halten, sagen: Das Boot ist voll, namentlich das der Mèduse von 1816. An diesem Beispiel illustriert Trojanow, was gemeint ist. Der Kapitän und die Seinen retten sich, der Rest der Mannschaft wird im Meer versenkt oder kannibalisiert sich selbst. So geht es auf der Welt heute zu, sagt Trojanow. Ilija Trojanow hat die politischen und ökonomi- schen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte mit Argwohn beobachtet und denkt Fehlent- wicklungen konsequent zu Ende. Er bringt die Verwerfungen des globalen Kapitalismus auf den Punkt und provoziert durch die daraus resultierenden, schmerzhaften Fragen. Der entfesselte globale Finanzkapitalismus hat die Welt geteilt, in ein paar hundert Superreiche und Abermillionen Menschen, die in höchst prekären Verhältnissen leben. Die nivellierte Mit- telstandsgesellschaft ist Geschichte. Arbeit und Bildung sind kein Garant mehr für ein würdiges Leben; das materielle Glücksversprechen erfüllt sich nicht für alle. Obdachlose, Niedriglöhner, neue Selbstständige, prekär Angestellte mit Kettenverträgen, sie alle bilden den Bodensatz unserer Gesellschaft. All die Überflüssigen trennt eine undurchlässige Mauer zur immer kleiner werdenden Klasse der Festangestell- ten; weltweit machen die Kernbelegschaften nur noch 20 Prozent aller Arbeitskräfte aus. Ausgehend von den USA ist es einer kleinen Klasse neoklassischer Ideologen und Manager gelungen, ein weltweit disponibles Reservoir an kostengünstigen Arbeitskräften heranzuziehen, ohne dass es nennenswerte politische Proteste gab. Die Gesetze des Marktes schränken demokrati- sche Freiheitsrechte ein, ökonomisch Mächtige steuern gesellschaftliche Prozesse so, dass ihre Interessen geschützt, die aller anderen jedoch missachtet werden. Ein Skandal, meint Trojanow, denn „materielle Ungleichheit bedingt politische Ungleichheit“. Die Demokratie werde ausgehöhlt. Damit den Zuschauer auf der sicheren Seite nicht humanistischer Zweifel anfällt, sorgt die Kulturindustrie mit ihren Katastrophenszenarien für Abstumpfung und Gewöhnung an die Un- menschlichkeit: „Nicht die Moral des Helden ändert sich, wie im klassischen Drama, sondern die Moral des Zuschauers…“. Autor Trojanow fragt sich deshalb in seinem kämpferischen Essay, wie die europäische Demokratie so tief sinken konnte und seit wann dieser dumpfe Sozialdarwinismus zum Leitbild der westlichen Gesellschaften werden konnte. Solidarität und Gemeinwohlorientierung gelten als gestrige Verliererwerte. Trojanow vertritt die These, dass diese Ausgrenzungen eine zwingende Folge der Ökonomisierung von allen Lebensbereichen war. Was also tun? Begreifen, dass diese Krise keine kurzfristige Angelegenheit ist, sondern vielleicht und sogar sehr wahrscheinlich das Ende der uns bekannten Welt einläutet. Trojanow plädiert für Visionen: „Wer keine Visionen hat, sollte zum TÜV gehen.“ Wir benötigen utopische Entwürfe, um uns überhaupt erst vorstellen zu können, wie eine bessere Gesellschaft und ein tatsäch- lich gerechtes und nachhaltiges Wirtschaften aussehen können. Fazit: Trojanow’s Essay erscheint als wichtige und brillante Streitschrift. Ein ehrliches Plädoyer für mehr soziale Gerechtigkeit, für die Wieder- erlangung der menschlichen Würde frei von kommerzieller Bewertung. Schließlich gilt es die Armut zu bekämpfen, nicht die Armen. Als scheinbare Gewinner sollten wir uns nicht täuschen, es geht auch um uns. In seinen eindringlichen Analysen schlägt er den Bogen von den Verheerungen des Klimawan- dels über die Erbarmungslosigkeit neoliberaler Arbeitsmarktpolitik bis zu den massenmedialen Apokalypsen, die wir, die scheinbaren Gewinner, mit Begeisterung verfolgen. Doch wir täuschen uns: Es geht auch um uns. Es geht um alles. Der überflüssige Mensch IlijaTrojanow Der überflüssige Mensch Ilija Trojanow Residenz Verlag 2013 96 Seiten ISBN 978-3-7017-1613-5 | 16,90 Euro DerüberflüssigeMensch

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