Das Auge des Sturms
Die Welt ist ein Sturm: Unberechenbar, gewaltig, oft gewalttätig. Sie heult vor Ungewissheit. Sie zerreißt unsere Pläne, unsere Identitäten, unsere Illusionen von Kontrolle. Und doch existiert inmitten dieses Unwetters ein Paradox – das Auge.
Das Auge des Sturms ist ein Raum innerhalb des Sturms. Es ist nicht deshalb ruhig, weil der Sturm verschwunden wäre, sondern weil wir ein Zentrum gefunden haben, das von seinem Kreisen unberührt bleibt. Im Auge zu verweilen, bedeutet nicht, den Sturm zu leugnen, sondern ihn zu bezeugen, ohne von ihm verschlungen zu werden. Es ist die Kunst der Losgelöstheit, nicht der Gleichgültigkeit, die Disziplin der Achtsamkeit, nicht des Vermeidens.
Hier wird das Selbst nicht von den Winden der Angst zerstreut oder von den Strömungen des Verlangens fortgezogen. Hier erkennt man, dass Frieden nicht das Fehlen von Kampf ist, sondern eine Haltung inmitten des Kampfes. Und vielleicht bedeutet das, wirklich lebendig zu sein – nicht dem Sturm auszuweichen, noch von ihm zerstört zu werden, sondern in seinem Herzen eine Stille zu finden, die uns niemand nehmen kann. Das Auge des Sturms im Sturm des Lebens zu sein bedeutet, Stille, Präsenz und Resilienz nicht in der Abwesenheit von Chaos zu kultivieren – sondern mittendrin. Im Sturm des Lärms ist das Auge die Stille.
Das Auge zu sein bedeutet, die Welt zu bezeugen, ohne von ihr mitgerissen zu werden. Du vermeidest weder deine Gefühle noch die Menschen um dich herum – aber du verlierst dich auch nicht in ihnen. Wenn andere wütend, ängstlich, panisch sind – nimm ihren Sturm nicht auf. Beobachte ihn. Höre mit Mitgefühl zu, aber bleibe in deiner Ruhe verwurzelt. Denke bei dir: Ich kann das bezeugen, ohne es zu werden. Das ist eine Übung in Begrenzung und Empathie zugleich. Nicht alles braucht eine Reaktion. Nicht jeder Kampf braucht dein Schwert. Lass manche Dinge vorbeiziehen wie Wolken am Himmel. Gib die Illusion auf, dass du alles reparieren, gewinnen oder beweisen musst. Egal wie stark der Sturm wird – der Atem ist immer da. Ein bewusster Atemzug – tief und voll – kann dich immer wieder in das Auge zurückbringen.
Das Auge des Sturms zu sein ist keine Eigenschaft, mit der man geboren wird. Es ist eine Disziplin der Präsenz, eine Lebensweise. Es bedeutet, in jedem Moment bewusst zu entscheiden, sich nicht vom herumtobenden Chaos fortreißen zu lassen. Es ist kein Rückzug aus dem Leben – sondern eine Weise, voll darin zu stehen – unerschüttert.
Hier ein kleines Experiment:
Bitte schließ deine Augen. Atme dreimal tief ein und aus.
Denk nun an etwas in deinem Leben, das sich wie ein Sturm anfühlt.
Es kann eine Situation sein, ein Gedankenmuster, eine Beziehung – alles, was sich überwältigend oder außer Kontrolle anfühlt.
Sieh es vor deinem inneren Auge. Spüre die Bewegung, die Spannung, den Lärm. Das ist der Sturm. Er umgibt dich … aber er definiert dich nicht. Du bist nicht der Sturm.
Stelle dir jetzt inmitten dieses tobenden Chaos einen ruhigen, stillen Raum im Zentrum vor. Einen Kreis der Stille. Das ist das Auge des Sturms.
Tritt hinein. Hier ist der Wind still. Hier bist du unberührt. Der Sturm mag toben, aber du bist sicher in diesem Zentrum.
Spüre, wie dein Atem zu einem Anker wird. Einatmen… und spüre, wie der Frieden einkehrt.
Ausatmen… und spüre, wie die Anspannung geht.
Atme in das Zentrum deines Seins.
Lass dich durch jeden Atemzug daran erinnern: Ich bin die Stille im Sturm.
Von diesem ruhigen Zentrum aus blicke nach außen.
Der Sturm wirbelt noch – Emotionen, Menschen, Anforderungen, Ängste –, aber du beobachtest, ohne zu urteilen.
Du versuchst nicht, ihn zu reparieren. Du kämpfst nicht dagegen.
Du bist einfach im Dasein – verwurzelt, ruhig, wach.
Wiederhole still bei jedem Atemzug: Ich bleibe ruhig im Chaos. Ich beobachte, ich reagiere nicht. Diese Stille ist immer in mir.
Wisse, dass du jederzeit zu diesem Ort zurückkehren kannst – zu diesem inneren Auge.
Der Sturm mag zurückkehren. Er mag sich verändern. Aber deine Stille ist nie verloren.
Sie lebt in deinem Bewusstsein. In deinem Atem. In deiner Entscheidung, ruhig zu bleiben.
Du bist das Auge des Sturms. Still. Zentriert. Unerschüttert.
Kehre nun langsam und sanft zurück – und nimm die Ruhe mit dir.
Fr. Goran Crnadak