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AMORC Magazin 04|2015

46 Jaron Lanier ist Computerwissenschaftler, Internetpionier, Unternehmer und Musiker, ein Rockstar der Informatikszene. Er lehrt an der University of California in Berkeley und ist als Forscher und Berater für Microsoft tätig. In den achtziger Jahren gehörte Lanier zu den Propheten der digitalen Utopie; er schwärmte von der radikalen Demokratisierung der Bildung, Transparenz der Politik und digitalen Innovati- onen als Wirtschaftsmotor. Gemeinsam mit dem LSD-Papst Timothy Leary predigte Jaron Lanier in den Achtzigerjahren eine neue Technologie, für die er das Schlagwort ge- prägt hatte: Virtual Reality. Damals formierte sich an den amerikanischen Informatik-Fakultäten und in den Laboren eine Gegenkultur und so war der Zusammenschluss mit einem der wichtigsten Intellektuellen der Hippie-Ära kein Zufall. Leary fungierte als Brückenfigur auf dem Weg von einer psychedelischen in eine virtuelle Welt, die auch die Probleme der realen Welt zu lösen versprach. Die Realität in der wirklichen Welt verlief jedoch anders als vorgestellt; die kalifornischen Monopolisten ha- ben die Idee des Internets pervertiert, stellt Lanier jetzt fest. Orwells "schöne neue Welt" hat längst Gestalt angenommen; die digitale Ökonomie steht in direkter Beziehung zu Totalüberwachung, Ausbeu- tung der Massen und schwindendem Mittelstand. Dass der Börsenverein des deutschen Buchhandels Laniers Auszeichnung mit dem Friedenspreis 2014 ausgerechnet am Jahrestag der Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden bekannt gab, ist jedenfalls an Symbolkraft kaum zu überbieten. Der Informatiker habe erkannt, welche Risiken die digitale Welt für die freie Lebensgestaltung eines jeden Menschen habe, heißt es in der Begründung des Stiftungsrats. Mit dem Cyber-Utopisten ist eine Veränderung vor sich gegangen. Spätestens seit der Finanzkrise wurde ihm klar, dass es, zumindest in ökonomischer Hinsicht, keine „virtuelle Realität“ gibt, sondern nur ein und dieselbe Realität, die sich allerdings auf den Bildschirmen der einen und auf den Tellern der anderen sehr unterschiedlich darstellt. Internetkonzerne wie Google, Facebook, Amazon und all die anderen sind monströs große Daten- sammler, von Lanier in Anlehnung an die griechische Mythologie „Sirenenserver“ genannt. Die gesam- melten Daten werden mit den leistungsfähigsten Computern analysiert. Die Ergebnisse der Analysen werden geheim gehalten, aber dazu genutzt, die übrige Welt zum eigenen Vorteil zu manipulieren. Sirenenserver sind folglich auch die Finanzmärkte, Krankenversicherungen und nicht zuletzt die Geheim- dienste. Lanier sieht die Ursache für die heutigen, durch das Internet geschaffenen Wirtschaftsproble- me im Paradigma nur scheinbar kostenloser Angebo- te und Leistungen. Die gewonnenen Informationen bilden das eigentliche Kapital, mit dem die großen Internetkonzerne Gewinne erwirtschaften. Die Krux an diesem Deal sei, dass sich diese Dienste auf die kostenlose Mitarbeit der Nutzer stützten. Damit ver- letzten sie das elementare Prinzip des Kapitalismus: Arbeit muss entlohnt werden. Auf Dauer, so Lanier, wird das zu einer immer unangefochteneren Macht der "Herrscher der Cloud" führen. Damit einher geht eine Verschiebung der Eigentumsverteilung zu weni- gen, die über große Vermögen verfügen, und vielen, die praktisch über nichts verfügen. Was Lanier seit etwa 15 Jahren mehr und mehr bestürzt, ist der schleichende Verrat der Branche an ihren noch aus der Hippie-Ära stammenden Utopien von der Erweiterung menschlicher Erfahrung. Der Trip geht zu Ende, es bleibt die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Als bekennender digitaler Idealist liefert Lanier eine gute und objektive Analyse der heutigen Missstände in der digitalen Welt. Seine Skepsis richtet sich nicht gegen die grundlegende Architektur des Internets, sondern gegen die Erlösungsversprechen einer techno- logisch inthronisierten Hypermoderne, die er als "halluzinatorische Freiheit" bezeichnet. So ist denn Lanier auch keiner von denen, die glauben, dass die Abschaffung von Regierungen, Regulierungen oder der Verzicht auf den Kapitalismus ein Paradies im Netz schaffen würde. Vielmehr stellt er den Men- schen in den Mittelpunkt und entwickelt Ideen, wie das Netz entsprechend menschenwürdig entwickelt werden kann. Seine Analyse der Fakten mag brillant sein, seine Lösungsansätze sind es eher nicht. Sein Vorschlag für mehr Gerechtigkeit, die Leute mittels „Nanozah- lungen“ an der Ausbeutung ihrer Daten durch die Si- renenserver finanziell zu beteiligen, erscheint eher als eine Art Ablasszahlung der Internetkonzerne. Aber es wäre wohl unfair, ausgereifte Lösungsmodelle für so große Zukunftsfragen von einem einzelnen Spezia- listen zu erwarten; dazu ist eine umfassendere Sicht auf unsere Probleme nötig. Klar, die Internetkonzerne sind mittelschichtsvernichtende und steuerzahlungs- vermeidende Unternehmen, sie unterwandern und zerstören unsere demokratischen Gesellschaftssys- teme und entziehen sich jeglicher Verantwortung. Ja, die mächtigen Konzerne sammeln nicht nur Daten, sondern Geld, sehr, sehr viel Geld. Und Geld regiert die Welt, nicht etwa die demokratisch Gewählten. In diesem Sinne ist übermäßiger Reichtum ein Verbre- chen an der Menschheit. Zu einer Vision von einer gerechteren Zukunft gehören aber weitere Faktoren, die es zumindest zu diskutieren gilt, Geldschöpfung privater Banken, Bedingungsloses Grundeinkommen und viele weitere. Eine breit angelegte gesellschaftli- che Debatte erscheint dringend erforderlich. Es wird Zeit, wir sind mitten drin im Strukturwandel. LESEN, HÖREN, SEHEN – FÜHLEN WemgehörtdieZukunft? JaronLanier Verlag Hofmann & Campe, 2014 ISBN 978-3-455-50318-0 480 Seiten | 24,99 Euro Wem gehört die Zukunft? Jaron Lanier

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